Natural Leadership: Macht- und Hierarchiestrukturen aus der Natur
Die Natur ist ohne Frage das erfolgreichste Unternehmen aller Zeiten – und das schon sehr viel länger, als es uns Menschen gibt. Über Millionen Jahre hinweg hat sie einen modernen und nachhaltigen Führungsstil entwickelt, der auf das Überleben und die Absicherung des Überlebens ausgerichtet ist. Die Natur kennt keine Gewinnmaximierung, keine Ausbeutung und keinen Machtmissbrauch, obwohl gewisse Hierarchien und Regeln durchaus eine Rolle spielen.
Was kann erfolgreiches Leadership von der Natur lernen? Natürliche Ökosysteme sind hochkomplex und dennoch anpassungsfähig; Krisen werden eher als Chance zur Weiterentwicklung wahrgenommen. Wer sich mit Flora und Fauna intensiv auseinandersetzt, entdeckt viele innovative und intelligente Lösungen. Dabei geht es nicht darum, die Natur zu kopieren, sondern das Prinzip dahinter zu verstehen. Dann lässt es sich nämlich relativ einfach auf den Führungsalltag übertragen.
Zwei erfolgreiche Prinzipien
In der Natur kommen sowohl hierarchische Strukturen als auch Selbstorganisation vor. Die Frage, welches Prinzip in der Natur dominiert, lässt sich nicht mit einem klaren Ja oder Nein beantworten. Denn tatsächlich geht es hier nicht um ein entweder oder, sondern ein sowohl als auch! Ganz ohne Frage sind Hierarchie, Rang und Hackordnung ein wesentlicher Bestandteil der Natur – auch der menschlichen. Auf der anderen Seite laufen in Ökosystemen sehr viele Prozesse selbstorganisiert statt. Welches Managementsystem und welchen Typ Leader würde die Natur also bevorzugen? Kommt sie möglicherweise ganz ohne einen aus? Und welche Eigenschaften sollte eine Führungskraft mitbringen, wenn Sie in diesem „Unternehmen“ Erfolg haben möchte? Fragen wir die Natur doch einmal selbst nach ihren Erfolgsrezepten…
Führungstalente im Tierreich
Einige Tierarten, z.B. Hühner, leben in einer strengen Hierarchie, der sogenannten Hackordnung. Das Prinzip des Stärkeren hat für die Gruppe einige Vorteile: Da die Rangordnung geklärt ist, werden Aggressionen reduziert, und ein starker Anführer schützt die Gruppe vor Bedrohungen. Auf der anderen Seite muss der Rang des Rudelführers immer wieder aufs Neue durch Kämpfe verteidigt werden. Arten mit komplexerem Sozialverhalten setzen daher nicht nur auf körperliche Stärke. Bei den Rhesusaffen kommt beispielsweise noch eine psychische Disposition hinzu. So wird der Status innerhalb des Rudels neben körperlicher Kraft auch durch Wagemut bestimmt. Elefanten und höhere Primaten gehen sogar noch einen Schritt weiter: Hier wird die Gruppe von dem erfahrensten, häufig ältesten Tier anführt. Diese sogenannten Kompetenzhierarchien haben den Vorteil, dass die jungen und unerfahrenen Mitglieder des Rudels von den Älteren und Erfahrenen lernen können. Übrigens gibt es auch in der Natur jede Menge Frauenpower! Elefanten, Schwertwale, Tüpfelhyänen und noch einige andere setzen auf die weiblichen Talente und vertrauen ihren erfahrenen Chefinnen.
Kein Chef, dafür wenige einfache Regeln
Wer genauer hinschaut, findet in der Natur nicht nur Hierarchien, sondern auch sehr viel Selbstorganisation. Sonnenblumen können sich im Kollektiv so „absprechen“, dass alle stets mit dem Blick zur Sonne stehen. Pflanzen kommunizieren über sensorische Netzwerke, indem sie Signale ihrer Umgebung, z.B. Licht und Schatten, wahrnehmen und zeitgleich selbst Signale aussenden. Ebenso funktioniert auch das Myzel, ein gewaltiges und fein verzweigtes unterirdisches System der Pilze im Waldboden. Über dieses Wood Wide Web sind Bäume in der Lage, miteinander zu kommunizieren und vermutlich sogar Nährstoffe auszutauschen, um Artgenossen im Schatten oder den Nachwuchs zu versorgen.
Auch ein Vogelschwarm ist ein kollektiver Organismus, der auf ein gemeinsames Ziel hinarbeitet und dabei völlig ohne Hierarchien auskommt. Jeder einzelne Vogel kann kurzfristig die Führungsrolle übernehmen und ein Flugmanöver initiieren, welches wie eine Welle den gesamten Schwarm blitzschnell durchläuft. Hierfür genügen wenige Regeln: Indem jedes Tier versucht, möglichst den gleichen Abstand zu seinem Nachbarn einzuhalten, entstehen Strukturen. Dadurch werden Abläufe vereinfacht, Ressourcen geschont und die Gruppe bestmöglich vor Feinden geschützt. Durch das Beobachten entfernterer Mitglieder können die Vögel anstehende Richtungsänderungen bereits im Voraus erahnen. Kollektives Verhalten ist also in der Natur weit verbreitet, da es viele Vorteile bietet: Eine Organisationsform, die auf Selbstorganisation, Vernetzung und Anpassung basiert, ist flexibel und kann Unsicherheiten aushalten. Wenn alle die Regeln intuitiv anwenden und auf die Schwarmintelligenz vertrauen, ist sogar der Anführer entbehrlich.

In Krisen muss klar sein, wer entscheidet
Ob selbstorganisiertes Netzwerk oder Hierarchie: In Krisen muss klar sein, wer entscheidet. In einem Sonnenblumenfeld, einem Vogel- oder einem Fischschwarm laufen die Reaktionen selbstgesteuert ab, weil die essenziellen Regeln Teil der DNA ihrer Mitglieder sind.
In Gruppen mit komplexerem Sozialverhalten, in denen die Mitglieder sich persönlich kennen, zeigt sich der evolutionäre Sinn einer Hierarchie vor allem in Stresssituationen: In einer Gruppe bricht schnell das Chaos aus, wenn die Entscheidungshoheit nicht geklärt ist. Bei einem drohenden Flugzeugabsturz braucht es die schnelle und vor allem akzeptierte Entscheidung des (erfahrenen) Piloten. Für demokratische Prozesse bliebe hier einfach keine Zeit, und wir haben auch keine genetische Veranlagung, die uns befähigen würde, eine solche Bedrohung durch selbstgesteuertes kollektives Verhalten abzuwenden.
Ob eine Gruppe „überlebt“, hängt demnach davon ab, dass die Mitglieder eine Hierarchie akzeptieren und den Entscheidungen im Ernstfall vertrauen. Auswahlprozesse sollen gewährleisten, dass eine Führungspersönlichkeit ihrer Aufgabe auch gewachsen ist. Was im Tierreich durch Kampf oder Zustimmung der Gruppe ausgetragen wird, passiert in unserer modernen Arbeitswelt häufig im Assessmentcenter oder einem mehrstufigen Bewerbungsverfahren. Aber genügt das auch?
Welche Eigenschaften braucht ein Natural Leader?
Um noch einmal zur Ausgangsfrage zurückzukommen: Was macht einen erfolgreichen Leader aus? In der Natur ist nachhaltiger Erfolg offensichtlich nicht der Verdienst des EINEN Chefs, der alles bestimmt und dem sich alle unterordnen müssen. Wer jedoch über einen gewissen Zeitraum mit einer Führungsrolle betraut wird, sollte neben der grundsätzlichen Bereitschaft, Führung zu übernehmen, Erfahrung und Mut mitbringen und vor allem durch die Gruppe akzeptiert werden. Hierfür ist soziale Kompetenz sicherlich von Vorteil. Neben einer gewissen fachlichen Erfahrung (die wahren Experten sitzen ja meist im Team) ist es jedoch vor allem die persönliche Erfahrung, die entscheidend ist. Leader sollten stets willens und fähig sein, nicht nur ihr Umfeld, sondern vor allem sich selbst zu reflektieren. Denn im Gegensatz zur Natur nutzen wir Menschen nicht nur unsere Talente, wir sind auch mit einem Ego ausgestattet – leider nicht unbedingt zu unserem Vorteil.
Da Führungsposition in der Regel mit einem Gewinn an Prestige und Gehalt verbunden sind, landen nicht immer die erfahrensten und begabtesten Persönlichkeiten in einer Führungsposition, sondern diejenigen mit einem hohen Machtmotiv. Das Streben nach Macht unterliegt jedoch – im Gegensatz zu den Grundbedürfnissen wie Hunger und Sexualität – keiner Sättigung. Auch die Angst vor Machtverlust ist für Leader kein guter Wegweiser. Wird Macht über einen längeren Zeitraum akkumuliert, kann sie zu einer Veränderung der Selbstwahrnehmung und zur Selbstüberschätzung führen. Außerdem besteht die Gefahr, dass Erfolge bei mangelnder Selbstreflexion bzw. mangelndem Selbstwert nicht mehr als Teamleistung, sondern als persönlicher Verdienst wahrgenommen werden. Dabei geraten Mitarbeiterzufriedenheit, Kreativität und Leistungsfähigkeit des Teams zwangsläufig in den Hintergrund.

Leadership als dienende Leistung
In ihrer natürlichen Funktion ist Führung eine dienende Leistung, die auf Nachhaltigkeit und den Fortbestand der Organisation ausgerichtet ist. Die Zuständigkeiten können jedoch durchaus unterschiedlich vergeben sein! Wie im Vogelschwarm kann eine Gruppe durchaus für einen gewissen Zeitraum demjenigen folgen, der etwas besonders gut kann. Das muss nicht zwangsläufig die Führungskraft sein, sondern der Kompetenteste in seinem Bereich. Damit diese Form der stärkenorientierten Selbstorganisation funktioniert, braucht es jedoch einige Regeln, die das Team in einem gemeinsamen Prozess aufstellt.
Eine erfolgreiche Führungskraft wäre demnach eine Persönlichkeit, die die Talente ihrer Mitarbeiter zum Leuchten bringt. Idealerweise sollte die Gruppe also der Persönlichkeit, die die Potenziale ihrer Mitarbeiter am besten zum Einsatz bringt, die Führungsrolle anvertrauen. Es macht daher Sinn, das Team bei der Neubesetzung einer Führungsposition einzubeziehen.
Eine lernende Organisation nach dem Vorbild der Natur dient dem Menschen – und nicht umgekehrt. Das gelingt am besten in einem Klima der Wertschätzung und einer Unternehmenskultur, die Feedback und Selbstreflexion fördert. Dazu braucht es eine konsequent stärkenorientierte Personalentwicklung, die ihre Mitarbeiter nicht nur fachlich, sondern auch persönlich weiterentwickelt. Eine Hierarchie der Anerkennung mit Offenheit für Feedback und einer Begrenzung von Führungszeiträumen und Macht bietet eine optimale Voraussetzung für kreative und produktive Teams.
Zusammenfassend kann man sagen: In der Natur lassen sich die verschiedensten Macht- und Hierarchiestrukturen finden. Die Natur bewertet diese jedoch nicht – entscheidendes Kriterium ist in jedem Fall eine nachhaltige Absicherung des Überlebens. Auch wir Menschen haben die Möglichkeit, unser Wirtschaften neu zu denken und nachhaltige, kreative Formen der Arbeitsorganisation zu schaffen. Allerdings sind wir uns durch unser Ego selbst im Weg. Von der Natur lernen heißt daher, das eigene Ego zurückzunehmen und sich in den Dienst der Sache zu stellen. Das gilt insbesondere für Führungskräfte, aber eben auch für jedes Mitglied des „Schwarms“, also des Teams bzw. des Unternehmens.
In diesem Sinne, viel Spaß beim Anführen!